Es ist der Hidden Champion der Webshop-Features und steht besonders bei Shopbetreibern ganz oben auf der Wunschliste: Dynamic Pricing – zu Deutsch Dynamische Preisgestaltung. Also Produktpreise, die sich ganz automatisch nach Markt-Gegebenheiten wie Wohnort oder Saison anpassen. Klingt ja eigentlich echt praktisch für die Kunden. Doch irgendwie muss man trotzdem ständig an den besonders „kundenfreundlichen“ Preispoker von Tankstellen denken.
In unserer Blog-Kolumne schreiben Mitarbeiter von netz98 frei von der Leber weg über ein Thema ihrer Wahl. Ihre Standpunkte sollen anregen und zum Diskutieren ermuntern.
Der böse Schatten der Exklusivität
Der Grundgedanke ist ja im Prinzip eine gute Idee: Das KI-Tool eines Webshops stellt mithilfe des Wetterberichtes fest, dass es in Hoppstädten-Weiersbach mehrere Tage regnen wird, setzt daraufhin die Preise von Regenschirmen runter und schickt eine passende Marketing-Mail an Kunden heraus, die laut Anmeldedaten in dieser Region wohnen. Die betroffenen Kunden freuen sich ob der fürsorglichen und modernen Betreuung, die Kundenbindung wächst, genauso wie der Umsatz des Shopbetreibers. Thema beendet, ist doch alles super, wieso all die Vorbehalte gegen Dynamic Pricing?
Nun ja, dass hier beschriebene Szenario ist die absolute Idealvorstellung von gewitzten Marketing-Profis, die im Zuge des Auftrags „Maximale Kundenzentrierung, bei maximalem Umsatz“ eine Strategie entworfen haben, die unter dem Deckmantel der Exklusivität besondere Kundennähe vorgaukelt. In Wirklichkeit geht es bei Dynamic Pricing um viel ernstere und weitaus unromantischere Faktoren wie Marktbedarf, Lagerbestand, Wettbewerb und eben Gewinnmaximierung. Beworben wird natürlich etwas völlig anderes. Nämlich die bereits erwähnte Traumbeziehung zwischen Kunde und Shopbetreiber – mit Dynamic Pricing als verantwortlichen Date Doktor.
Dynamic Pricing ist nicht das Gleiche wie kundenspezifische Preise
Um dieser These auch gleich noch einmal ein wenig Nachdruck zu verleihen: Dynamic Pricing ist etwas völlig anderes, als kundenspezifische Preisgestaltung, wie sie vor allem im B2B-Sektor bewährte Praxis ist. Denn dort ist tatsächlich noch ein wenig ernst gemeinte Gutmütigkeit verborgen. Großkunden, die immer das Gleiche bestellen oder immer in großen Mengen, bekommen das Ganze für einen guten Batzen weniger im Vergleich zum standardmäßigen Listenpreis. Diese Strategie ist nicht nur wesentlich durchsichtiger für die Käufer, sondern kann zweifellos auch eine echte Kundenbindung entstehen lassen.
Dynamic Pricing ist dagegen so etwas wie das böse, optimierte Zweitgeborene aus dem Labor, welches perfekt für den Endkunden-orientierten B2C-Markt optimiert ist. Zumal es in der harten Realität eher so ist, dass der Regenschirm-Preis bei Regen vom Algorithmus nach oben geschraubt wird, anstatt nach unten – und da wären wir beim Faktor Marktbedarf. Wäre Dynamic Pricing schon im Jahr 2015 so populär gewesen, als aufgrund eines eine Woche andauernden Starkregens im Umkreis von ca. 70 km um das Metal-Festival Wacken sämtliche Gummistiefel ausverkauft waren, hätten findige Shopbetreiber den Dauerregen in einen Geldregen umwandeln können.
Apropos lokaler Umkreis: Der Preisgestaltungs-Algorithmus von Dynamic Pricing bezieht selbstverständlich auch Faktoren wie die wirtschaftliche Kaufkraft einer Region mit ein. Heißt im Klartext: Ein Webshop-Besucher, der auf seiner Couch in Schwabing sitzt, bekommt einen höheren Preis angezeigt, als jemand im Plattenbau in Gelsenkirchen. Irgendwie hat das ein bisschen was von Robin Hood, den Reichen mehr Geld aus der Tasche zu ziehen, um im Gegenzug den Armen dann mehr Rabatt zu gewähren. Streng betrachtet ist das aber eine Kunden-Verasche.
Vergleichen, vergleichen, vergleichen
Nun mögen jetzt einige die Aufregung über Dynamic Pricing nicht ganz verstehen können – schließlich ist das ja eigentlich nichts anderes, als die digitale Form einer Wettbewerbstaktik, wie man sie zum Beispiel von Tankstellen kennt. Auf Autobahnen ist es teurer, da die Gelegenheiten zum Tanken geringer sind, genauso wie Städte in der Regel geringere Spritpreise ausschreiben als Dörfer – natürlich mit teilweise minütlich wechselnden Beträgen. Diese Preispolitik ist bekannt, jeder hat sich mittlerweile notgedrungen damit abgefunden und deshalb regt sich auch niemand mehr großartig drüber auf. Allerdings haben die Kunden hier immer noch die Möglichkeit zur nächsten Tankstelle zu fahren – sollte sich die Tankanzeige nicht gerade zuckend im roten Bereich bewegen – um dort zu überprüfen, ob die Preisliste eher den Vorstellungen entspricht. Der klassische, manuelle Preisvergleich.
Bei Dynamic Pricing ist das nicht so einfach, es sei denn man benutzt ein VPN-Tool und kann dem Webshop einen anderen Standort vorgaukeln. Aber das macht ja so gut wie niemand, und das wissen auch die Anwender von dynamischer Preisgestaltung. Oder, um wieder das Beispiel mit dem Regenschirm aufzugreifen: Der Otto-Normalverbraucher verfolgt nicht ständig alle Preise eines Webshops und kann deshalb nicht nachvollziehen, ob das Angebot, was er per E-Mail bekommen hat, wirklich eins ist oder dreiste Gewinnkalkulation. Im Netz ist alles weitaus undurchsichtiger, und genau das ist eben der Knackpunkt an der Sache.
Was können die Verbraucher dagegen tun? Sollte auch nur ein Hauch von Misstrauen bei Betrachtung des Preises entstehen, hilft wieder das klassische Vergleichen mit anderen Shops. Und, wenn man bemerkt, dass Dynamic Pricing auf dem Lieblings-Webshop betrieben wird, bleibt eigentlich nur ein konsequenter Boykott.
So ist Dynamic Pricing nur eine weitere Bestätigung für das, was viele insgeheim eh schon wussten: Nur weil mal wieder ein fescher neudeutscher Begriff die Runde macht, heißt das noch lange nicht, dass sich dahinter auch etwas Sinnvolles für die Kunden verbirgt.
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Bilder: netz98, iStock