In mittlerweile fast zwei Jahren Corona-Pandemie haben wir alle sehr viel gelesen, geschrieben und geredet darüber, dass diese Umstände den finalen und endgültigen Siegeszug des E-Commerce eingeleitet haben. Doch die Pandemie hat auch gezeigt, dass das Bild einer perfekt vernetzten Welt bröckeln kann und wo die größten Schwachpunkte liegen. Einer davon ist die Lieferkette der Produktionsmaterialien, was viele Unternehmen zu einer Abkehr von billigen Produktionsländern in Fernost bewegt hat – ist dies das Comeback von Europa?
Wenn fehlendes Material Auswirkungen auf alle Bereiche der Wirtschaft hat
Ein Großteil der Online-Shopper und auch Retailer-Kunden haben es in den letzten Monaten mindestens einmal am eigenen Leib erfahren: Bestellte Waren kommen einfach nicht an, Preise explodieren und vieles ist gar nicht mehr verfügbar. Jeder, der im Jahr 2021 zum Beispiel versucht hat ein neues Fahrrad zu bestellen, den Computer mit einer neuen Grafikkarte auszustatten oder gar das Dach des neu gebauten Hauses fertigzustellen, weiß genau wovon hier die Sprache ist.
Lieferzeiten und -verzögerungen von mehreren Monaten sind Normalität (Fahrradbranche), völlig irrational gestiegene Preise für handelsübliche Produkte und Materialien (beispielsweise Chips für Grafikkarten oder Kameras sowie Holz für die Baubranche) sind ebenfalls zur Gewohnheit geworden.
Verantwortlich dafür ist das nachweislich löchrige Konstrukt der Internationalisierung. Ein sehr großer Teil von Unternehmen bezieht seine Waren aus Produktionsstätten in asiatischen Ländern wie China und Pakistan oder auch aus einigen Teilen von Nordafrika. Die Löhne dort sind mit dem Europäischen Niveau absolut nicht vergleichbar und dementsprechend niedrig sind dann die Produktionskosten. Eigentlich eine Win-win-Situation für alle: Die Hersteller können mit sehr hohen Margen kalkulieren, die Verbraucher alles auf der ganzen Welt bestellen und die ärmeren Länder haben durch die Produktionsstädten eine gewisse Sicherheit, wenn es um Arbeitsplätze geht.
Doch dann kam Corona: Die Produktionsstätten waren durch Hygiene-Regelungen und Erkrankungen unterbesetzt, was auch für das Personal in Frachtschiffen und- Flugzeugen gilt. Daraus resultierte, dass Hersteller ihre Produkte nicht fertigstellen konnten, weil wichtige Teile fehlten oder die zu hohen Transportkosten sich nicht mehr rechneten. Dieser Umstand, gepaart mit einer weiterhin ungebrochenen – oder sogar erhöhten Nachfrage – durch die Verbraucher verursachte die erste echte Wirtschaftskrise des eigentlich so übermächtigen Onlinehandels. Aber wie für fast jedes Problem gibt es auch hierfür Lösungen. Was also tun?
Back to the Roots
Dass angesichts dieser Tatsachen viele Unternehmen anfangen, ihr Geschäftsmodell zu überdenken, leuchtet ein. Nun ist die Corona-Pandemie eine sehr besondere Situation und das Gegenargument könnte lauten: „Das geht wieder vorbei, so lange müssen wir eben abwarten“. Dagegen sprechen vor allem zwei Dinge. Erstens weiß niemand genau, wie lang diese Pandemie noch wüten wird, zweitens braucht es keinen vorher unbekannten Virus, um die Lieferketten und somit die Wirtschaft kurzzeitig auszuhebeln: Der Fall des gestrandeten Mega-Frachters Ever Given im Suezkanal ist vielen noch im Gedächtnis und war einer der Hauptgründe, warum zum Beispiel die genannte Fahrradbranche erhebliche Probleme bei der Montage und der letztendlichen Auslieferung ihrer Saison-Modelle bekam und teilweise auch immer noch hat.
Die Möglichkeiten, wie Unternehmen auf solche Gegebenheiten reagieren können sind gering. Man könnte es so machen wie Sony, die aufgrund des vorherrschenden Mangels an Chips vorrübergebend komplett auf die Produktion einiger ihrer beliebtesten Kamera-Dauerbrenner verzichten. Oder man geht den tendenziell beschwerlicheren Weg und ändert sein komplettes Geschäftsmodell, indem die Produktion zurück nach Europa verlagert wird.
Und letzteres ist eine immer beliebter werdende Variante, weil die beschriebenen Vorfälle sehr deutlich gezeigt haben, wie schnell der E-Commerce an seine Grenzen stoßen kann. Der Trend, Europa wieder als Produktionsstandort zu etablieren, war zwar schon vor der Pandemie erkennbar, wurde durch diese aber erst befeuert.
Vorteile von Produktionen in Europa
Dass dies durchaus alles andere als eine „Notlösung“ oder blinder Aktionismus ist, zeigen die zahlreichen Vorteile, die sich durch den Standort Europa auftun:
- Logistische Sicherheit: Unternehmen sind viel weniger auf Schiffs- und Flugverkehr angewiesen und können logistische Engpässe und Probleme viel besser kalkulieren.
- Niedrigere Transportkosten: Waren und Produktionsmaterialien müssen über viel geringere Distanzen transportiert werden, was vor allem beim Kostenvergleich von Benzin zu Kerosin ein Pluspunkt ist.
- Unabhängigkeit: Dadurch, dass die Abhängigkeit von internationalen Produktionsfirmen größtenteils wegfällt, stärkt dies die Krisensicherheit in Europa und somit auch die Wirtschaft.
- Moralische Aspekte: Die Produktionshallen in vielen asiatischen Ländern werden vermehrt für schlechte Arbeitsbedingungen und -rechte kritisiert. Auch Kinderarbeit ist – vor allem in der Textilbranche – ein sehr ernstes Thema. Diesbezüglich ist ein Standort in Europa weitaus stabiler, auch wenn es noch große Unterschiede zwischen Ost- und Zentraleuropa gibt.
Und dann wäre da noch das Klima
Ein Faktor, der bei dieser Diskussion natürlich nicht fehlen darf, ist das omnipräsente Thema des Klimawandels. Gerade die Menge an CO₂, die durch die gigantischen Transportschiffe ausgestoßen werden, sollten in die Überlegungen einbezogen werden. Zumal sich Unternehmen generell Gedanken machen sollten, ob es wirklich nötig ist, bestimmte Produktionsmaterialien über den halben Globus schippern zu lassen. Aber auch Produktionen für die Chemiebranche in asiatischen Ländern wie Indien oder China fallen immer wieder durch ihren katastrophalen Umgang mit ihrer lokalen Umwelt auf. So geraten hochgiftige Chemiecocktails aus der Medikamentenherstellung in Indien (ein sehr großer Teil der Medikamente in Deutschland wird in Indien hergestellt) ungefiltert im Trinkwasser. Zustände, die eigentlich schon sehr lange nicht mehr hinnehmbar sind.
Ist der offene Weltmarkt gescheitert?
All die zuvor genannten Faktoren zeichnen ein sehr schlechtes Bild des offenen Weltmarktes, beziehungsweise der Globalisierung. Klar ist, dass Europa trotz all der Vorteile nie ganz ohne internationale Importe von Produktionsmaterial auskommen wird. Zum Beispiel wird für die Elektronik von Smartphones ein seltenes Erz benötigt, das vornehmlich in Afrika vorkommt. Klar ist auch, dass das „Projekt“ Produktionsstandort Europa noch mit einigen Hürden zu kämpfen hat, um sich vollständig durchsetzen zu können. Beispielsweise haben einige Länder sehr spezielle Vorgaben, die erfüllt werden müssen, damit dort ein Produktionsstandort eröffnet werden darf.
Und so soll dies kein Plädoyer gegen die Globalisierung sein, sondern lediglich ein Denkanstoß, alle Seiten und Optionen zu betrachten, statt immer auf maximale Gewinnkalkulation zu setzen. Man könnte dies auch als sinnvolle Weiterentwicklung der Internationalisierung betrachten. Wie es anders geht, hat jüngst der amerikanische Autohersteller Tesla bewiesen. Für den nächsten Produktionsstandort außerhalb der USA haben sie sich für Deutschland entschieden. Viele weitere Unternehmen könnten sich ein Beispiel daran nehmen und folgen.
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