Barrierefreiheit ist ein wichtiges Thema, das längst im Bewusstsein der Gesellschaft verankert ist. Doch wie steht es um digitale Barrierefreiheit, beispielsweise im E-Commerce? Hier spielt der Sachverhalt noch keine wichtige Rolle, doch bald werden sich die Shopbetreiber von Gesetzes wegen damit beschäftigen müssen. Das klingt wie eine lästige Pflicht, doch bringen die neuen Anforderungen auch einige Vorteile mit sich.
Digitale Barrierefreiheit im E-Commerce bald vorgeschrieben
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“: Artikel 3 des Grundgesetzes.
Um die Grundrechte von Menschen mit Behinderung zu stärken sowie Defizite bezüglich der Barrierefreiheit zu beheben, hat die EU 2019 den „European Accessibility Act (EAA)“ ins Leben gerufen. Der EAA sieht vor, dass das Internet und explizit auch der E-Commerce Menschen mit Behinderung den maximalen Nutzen bringen muss. Die Mitgliedsstaaten der EU sind somit bis 2022 verpflichtet die rechtlichen nationalen Grundlagen zu schaffen und diese bis 2025 anzuwenden.
Für viele mag das neben monetären Belastungen wie regelmäßige Softwarteupdates, ISO-Zertifizierungen, PSD-2 oder DSGVO nach einer weiteren Herausforderung klingen. Und manch einer mag sich auch fragen, wie Menschen mit Behinderung das Internet überhaupt nutzen und was das im Einzelnen für das eigene Business bedeutet.
Nutzung des Internets von Menschen mit Behinderung
Die Internetnutzung von Menschen mit Behinderung variiert nach Art der Behinderung. Bei gehörlosen Menschen liegt die Nutzung bei bis zu 61 %, während dieser Wert bei motorisch behinderten Menschen bei 84 % liegt. Insgesamt lässt sich sagen, dass die generelle Internetnutzung von Menschen mit jedweder Art von Behinderung bei ca. 70 % liegt. Bezogen auf den Anteil der in Deutschland lebenden Menschen mit Behinderung sprechen wir also von über 5 Millionen Nutzern. Nicht zu vergessen, dass die Internetnutzung von Menschen mit Behinderung höher ausfallen würde, wären weitere Bereiche des Internets barrierefrei. Das Internet wird von diesen Menschen als Chance wahrgenommen, aber kann nicht vollumfänglich genutzt werden. Es sind aber nicht nur Menschen mit Behinderung, die von einem barrierefreien Internet profitieren. Auch Nichtmuttersprachlern oder älteren Menschen würde der Zugang erleichtert werden.
Was genau bedeutet barrierefreier E-Commerce?
Verschiedene Organisationen beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Thematik des barrierefreien Webauftrittes. Das W3C-Konsortium, die De-facto-Standardisierungsorganisation für das Internet, betreibt seit 1999 die Web Accessibility Initiative (WAI), welche Richtlinien erarbeitet. Darunter hervorzuheben sind die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG).
Die Erfolgskriterien für einen barrierefreien Webauftritt sind die Prinzipien Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit. Sie sind festgelegt durch die Webstandards „Web Content Accessibility Guidelines“ (WCAG) des W3C und bestimmen den Umgang mit allen relevanten Bereichen eines Webauftritts. Die aktuellste Version der WCAG ist die 2.1, die es in drei Stufen gibt: A, AA und AAA. In den meisten Bereichen wird die Einhaltung des AA Standards nahegelegt.
Die Umsetzung dieser Kriterien betrifft jegliche Bereiche einer Webanwendung; werden sie befolgt, ist eine Webanwendung und ihre Inhalte barrierefrei für jeden Webnutzer erreichbar und in vollem Umfang bedienbar. Das Schöne ist jedoch, dass es zu jeder dieser Kategorien ein Äquivalent gibt, welches ohnehin auf E-Commerce-Plattformen berücksichtigt werden sollte.
Was ist also genau zu beachten?
Im Grunde muss ein Onlineshop ohne visuelle Eindrücke ebenso nutzbar sein wie mit ebendiesen, dasselbe gilt für die Bedienung eines Onlineshops mit Maus und Tastatur sowie nur der Tastatur. Für Menschen mit etwa visuellen Einschränkungen können hier Tools wie Screenreader Abhilfe schaffen. Screenreader, also Vorlese-Anwendungen, sind Softwares, welche den Nutzern eine Benutzungsschnittstelle zu Webanwendungen ermöglichen, die rein auf Text basieren. Besonders im Rahmen des Checkoutprozesses müssen barrierefreie Identifizierungsmethoden, Formulare für elektronische Signaturen und Zahlungsdienste berücksichtigt werden.
Für Onlineshops sind die Hürden auf dem Weg zur Barrierefreiheit vielseitig. So müssen Produkte leicht auffindbar und der Shop intuitiv bedienbar sein, Nutzer dürfen sich nicht im Content verlieren, sondern sollen jederzeit die Möglichkeit haben, schnell an gewünschte Seiten und Bereiche zu gelangen.
Produkte müssen einfach und intuitiv filterbar und konfigurierbar sein, Links zur Bedienung semantisch eindeutig und Formulare ausreichend erklärt und verständlich sein.
Die Web Content Accessibility Guidelines 2.1 formulieren die Grundziele für barrierefreie Webauftritte. Durch ihre Einhaltung werden die vier Prinzipien Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit sichergestellt und die Überwindung jeglicher Hürden wird durch diese Richtlinien angeleitet.
So hat die Realisierung des Prinzips der Wahrnehmbarkeit einen positiven Effekt auf das Design und die Realisierung der Bedienbarkeit für Usability. Die Umsetzung des Prinzips der Verständlichkeit bewirkt maßgebliche Verbesserungen im Bereich SEO, und die Robustheit verbessert die Code Qualität im Rahmen der WCAG 2.1. Die einzelnen Prinzipien genauer aufgeschlüsselt:
Wahrnehmbarkeit und Design
Maßgeblich für das Kriterium Wahrnehmbarkeit ist eine erkennbare, erwartbare Navigation durch sämtliche Bereiche. Dies bedeutet, dass grundlegende Funktionalitäten den Nutzer intuitiv leiten müssen und keine unangekündigten Effekte zu Irritationen führen dürfen. Schaltflächen, Icons, Texte und eine gesunde Vorsicht bei Autoplay und Popups sind hierbei maßgeblich. Außerdem sind barrierefreie Typografien, welche beliebig zoombar sind und festgelegte Zeilen- und Zeichenabstände erfüllen – sowie ausreichende Kontraste – von größter Bedeutung.
Bedienbarkeit und Usability
Bewusstere Planung bei der Entwicklung eines Onlineshops in puncto Bedienbarkeit, führt zu geringerer Nutzerfrustration und geringeren Abbruchquoten. Um Bedienbarkeit erfolgreich umzusetzen, muss allen voran eine übersichtliche Struktur gewahrt werden. Der gesamte Webauftritt muss mit der Tastatur bedienbar sein und Buttons, Links und Navigationselemente visuell fokussiert werden können. Alle aktivierbaren Flächen müssen manuell bedienbar sein und repetitive Elemente sollen übersprungen werden können.
Verständlichkeit und SEO
Verständlichkeit im WCAG Kontext und SEO Accessibility überschneiden sich in vielen Bereichen. Hierbei bietet sich der Vergleich von Screenreadern und Crawlern an; beide erzielen das beste Ergebnis für den Nutzer, beziehungsweise Suchmaschine, wenn der Webauftritt verständlich ist.
Alle Nutzer müssen stets verstehen, wo sie sich befinden, welche Aktionen sie tätigen können und wie die Navigation funktioniert.
Hierbei spielt eine semantische HTML Struktur eine tragende Rolle. Ebenso wichtig für die Verständlichkeit sind klare Bezüge der Elemente zueinander, durch Einsatz von aria-roles, alt-Texten, semantisch hochwertigen Button- und Linktiteln sowie Inhaltsbeschreibungen und Title-Tags.
Robustheit und Codequalität
Werden die Richtlinien der WCAG 2.1 eingehalten, verbessert dies auch die Struktur, die Übersichtlichkeit und die Lesbarkeit und somit auch die Wiederverwendbarkeit des Codes. Der Effekt von barrierefreier Robustheit von Webauftritten ist darüber hinaus eine bessere plattform- und browserübergreifende Erreichbarkeit und die Einhaltung international gültiger Webstandards. Semantisch hochwertiges und lesbares HTML sowie klare Strukturen, sind die Basis für gute Robustheit aber auch Verständlichkeit – bei Barrierefreiheit und auch bezüglich SEO.
Kosten oder Nutzen – oder beides?
Um das volle Potenzial eines Onlineshops auszuschöpfen, müssen jegliche potenzielle Nutzergruppen angesprochen werden, unabhängig ihrer Einschränkungen. Durch die Einhaltung der WCAG Guidelines wird die Nutzungsschnittstelle deutlich verbreitert, das HTML wird lesbarer und sauberer und somit wird die Wiederverwertbarkeit erhöht.
Auch im Rahmen der Content-Pflege kann durch die Einhaltung der Richtlinien ein höherer Standard gesichert werden: Link- und Bildbeschreibungen, Audio- und Videoalternativen sind initial verpflichtend.
Die Einhaltung der WCAG Standards führt also dazu, dass der Code einheitlicher sowie der Webauftritt semantisch hochwertiger ist; Faktoren, welche auch bei SEO eine tragende Rolle spielen.
Die Einhaltung der WCAG Richtlinien trägt demnach auch in anderen Bereichen neben der Barrierefreiheit deutlich zur Qualitätssicherung bei.
Durch intuitives, unmissverständliches Design werden auch die Bereiche UX und UI gestärkt; klare Gliederungen, eindeutige Navigation des gesamten E-Commerce-Auftritts und die Einhaltung von typografischen Vorgaben ergeben einen klaren, ansprechenden Web-Auftritt.
Barrierefreier E-Commerce hat einen Nutzen für alle
Gemäß dem „EAA“ müssen Webseiten und somit E-Commerce-Plattformen ab 2025 barrierefrei sein. Wenn Shopbetreiber die Anforderungen an Barrierefreiheit umsetzen, erhöhen sie nicht nur die Reichweite ihrer E-Commerce-Plattform. Vielmehr müssen sich die betroffenen Unternehmen etwas intensiver mit Themen wie UX oder SEO befassen, die ohnehin auf jeder E-Commerce-Agenda stehen sollten.
Wenn Sie für die nächsten Jahre jeweils eines dieser Thema adressieren und dabei die entsprechenden Anforderungen berücksichtigen, schaffen sie Synergieeffekte, steigern ihre Effektivität, verteilen die Kosten und können schlussendlich den neuen Auflagen entspannt entgegenblicken, mit der Gewissheit auch etwas Gutes getan und das Image ihres Unternehmens verbessert zu haben.
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