Getrieben durch namhafte Beratungsfirmen und gezieltes Marketing großer IT-Unternehmen, träumen viele Firmen von der ganzheitlichen Customer Experience. Doch ist dieser Ansatz die passende Lösung für Ihr Unternehmen?
Alles aus einer Hand
Bei der ganzheitlichen Customer Experience wird dem Kunden alles aus einer Hand geboten. Er öffnet seine App auf dem Mobiltelefon oder gibt die Domain im Browser ein und kann sämtliche Services und Angebote in Anspruch nehmen. Zugleich werden die Daten des Kunden erfasst. Sie ermöglichen es, sein Verhalten vorherzusagen, ihn zu binden und die Prozesse bis hin zur Produktion auf den Kunden auszurichten und somit zu optimieren.
Dieses Rundum-glücklich-Paket ist sicherlich eine attraktive Vorstellung, bei der viele CEO ins Schwärmen geraten. Denn so hätten sie eine Antwort auf die Frage, wie sie ihr Unternehmen zukunftssicherer gestalten können.
Der weitest entwickelte Ansatz zu diesem Ziel ist SAP C/4HANA. Auch andere Anbieter wie IBM, Salesforce oder Adobe sind in die gleiche Richtung unterwegs. Jeder, der sich mit diesen Anbietern näher auseinandersetzt, wird schnell begeistert sein: Partnerschaften mit Apple und Google, die einen Zugang zu iOS und Android garantieren, reibungslose Integrationen in bestehende Landschaften, Artifical Intelligence und international etablierte Solution Partner hören sich vielversprechend an.
Die Kosten im Blick behalten
Der Weg zum Ziel ist lang. Und je länger jemand unterwegs ist, desto mehr Energie verbrennt er. Und Energie bedeutet in diesem Fall Kosten. Genau diese Kosten müssen Unternehmen im Blick haben. Daher ließe sich die Frage stellen, ob Ihr Unternehmen beispielsweise ein jährliches IT-Budget von mehr als 200 Mio. Euro zur Verfügung hat?
Case Studies, die SAP für seine Customer Experience anführt, sind Unternehmen mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz von mehr als 5 Milliarden Euro. Die Milliardengrenze überschreiten in Deutschland lediglich 0,2 % aller Unternehmen. Ausgehend von den mehr als 5 % des Gesamtumsatzes, den Unternehmen laut des Manager-Magazins CIO in die IT investieren, wären wir bei mehr als 200 Millionen Euro jährlich.
Selbstverständlich gibt es viele Unternehmen, die sich mit großen SAP-Landschaften auseinandersetzen, mit deutlich geringeren Budgets. Auch spiegeln die zuvor genannten Beispiele nicht die ganze Wirklichkeit wider. Dennoch zeigen sie, dass die von SAP und den anderen großen Playern ganzheitlich propagierten Ansätze tendenziell mit sehr hohen Kosten verbunden sind.
Und mal ganz ehrlich: Fühlen Sie sich angesprochen, wenn die SAP Case Studies von Unternehmen stammen, die ein Vielfaches Ihres Umsatzvolumens erwirtschaften?
Zeitliche Komponente nicht außer Acht lassen
Selbst wenn sich Ihr Unternehmen – unabhängig von der Umsatzgröße – eine Integration aller Systeme zur Vision macht und hierfür eine Lösung von SAP, Adobe oder einem anderen großen Anbieter einsetzen möchte, gibt es neben dem monetären Umsetzungsrisiko noch die zeitliche Komponente.
Dabei gibt es für Entscheider mehr als eine Frage zu berücksichtigen: Wann fange ich an? Wo fange ich an? Was haben meine Mitbewerber, was ich ganz schnell auch benötige? Womit bin ich wann fertig? Was kommt als erstes? Welche Prozesse muss ich umstellen? Welche anderen Prozesse sind davon betroffen? Was bedeutet das für meine Mitarbeiter?
Alle diese Fragen auf einmal zu beantworten scheint unmöglich. Zumal die Antworten noch gesucht bzw. erarbeitet werden müssen. Dazu kommt, dass sich viele der Antworten im Laufe der Zeit wahrscheinlich als nicht richtig herausstellen werden.
Ein üblicher Weg von Unternehmen ist: Sie engagieren für viel Geld namhafte Unternehmensberatungen, die – basierend auf ihren Erfahrungen mit anderen Unternehmen – mögliche Lösungen und Strategien erarbeiten. Am Ende wird es vermutlich eine Strategie mit unterschiedlichen Umsetzungsphasen geben.
Was ist dann das Ergebnis? Sie laufen vermutlich in die gleiche Richtung wie alle anderen Unternehmen auch – vielleicht etwas schneller, vielleicht etwas langsamer. Aber haben Sie hierdurch einen Wettbewerbsvorteil?
Die Digitalisierung lebt von Innovation. Nur diejenigen Unternehmen, die bereit sind, dem Kunden etwas neues zu bieten, gleichzeitig aber nicht davor zurückschrecken, auch mal eine Niederlage in Kauf zu nehmen, um aus dem Gelernten für sich und ihre Kunden einen gemeinsamen Mehrwert zu schaffen, können dauerhaft an der Spitze bleiben oder an die Spitze gelangen. Eine Studie zeigt, dass Unternehmen, die schnell auf Veränderungen reagiert haben, innerhalb von drei Jahren 12 % mehr Wachstum hatten, als Unternehmen mit defensiven Strategien.
Was wünschen sich Ihre Kunden?
In unserem Agenturalltag beobachten wir: Eine wirklich tiefgreifende Analyse der eigentlichen Kundenbedürfnisse ist bei Unternehmen selten bis nie vorhanden. Ein Versäumnis, das unbedingt nachgeholt werden muss! Begleiten Sie mal Ihre Kunden bei ihrer täglichen Arbeit. Beobachten Sie, wie Ihre Kunden ihren Alltag bewältigen und wo Bedürfnisse entstehen, für die Sie die passende Lösung bereitstellen könnten.
Nehmen wir an, Ihre Kunden möchten online Nachbestellungen tätigen, um ihre Lager wieder zu befüllen. Der Endkunde soll dann benachrichtigt werden, sobald er das Produkt abholen kann. Nach einer kurzen internen Prüfung, ob das ein relevanter Business Case sein könnte, entwickeln Sie einen Prototyp, der nur diese Anforderung bedient.
Agile Entwicklung
Für den Prototypen benötigen Sie kein aufwändiges Frontend mit unzähligen Designabstimmungen. Und dazu muss es keine Meetings mit zahlreichen Fachabteilungen geben. Sie brauchen einen Standard-Onlineshop, der an Ihr ERP angebunden wird. Sobald der Prototyp fertig ist, kann er getestet werden.
In der Testphase werden garantiert die nächsten Wünsche der Kunden kommen. Sie müssen dann „nur“ noch den passenden Moment finden, den Prototyp in ein fertiges Produkt umzuwandeln und für weitere Kunden auszurollen.
Blick über den Tellerrand
Oder profitieren Sie von den Lösungsansätzen völlig unterschiedlicher Branchen. Einer unserer Kunden aus der Baubranche bietet beispielsweise Systeme an, die standardmäßig aus mehreren Produkten bestehen. Allerdings arbeiten manche Bauunternehmen nicht mit den Standardprodukten eines Systems, sondern tauschen einzelne Produkte innerhalb des Systems aus.
Dieses Problem wurde bereits bei einem unserer Dentalkunden gelöst. Nur dass es sich hierbei nicht um Systeme bestehend aus Standardprodukten handelt, sondern um eine Zahnersatz-Linie mit Standard-Befüllungen. Da aber auch im Dentalbereich einige Dinge vom Standard abweichen, boten wir die Möglichkeit, die Standard-Befüllungen zu variieren, als eigene Sets abzuspeichern und online bestellen zu können. Das ergab für die Endkunden eine prozessuale Arbeitserleichterung. Diese Erleichterung senkt wiederum die Hemmschwelle zur eigentlichen Bestellung und sorgt bei dem Dentalunternehmen für mehr Online-Umsatz.
Conclusio: Bevor Sie schauen, was die Wettbewerber Ihrer Branche machen, sollten Sie auch auf andere Branchen blicken!
Fazit
Die 360° Customer View, in der alle Unternehmensbereiche wie Service, Marketing und Commerce cloudbasiert miteinander vernetzt werden können, liegt im Trend. Doch sie hat ihren Preis und bietet nicht zwangsläufig das Rüstzeug, das Sie für Ihren Unternehmenserfolg brauchen.
Hören Sie zu. Schauen Sie sich um. Probieren Sie aus. Und lernen Sie. Überlegen Sie vor allem, wie viel Sie an neuen Erfahrungen sammeln können, während Ihre Mitbewerber noch an der ganzheitlichen Lösung arbeiten, die bei Finalisierung unter Umständen wieder obsolet sein könnte. Oder, wie es in der Werbung mal hieß: Villarriba feiert schon, während Villabaio noch spült.
Bild: Pixabay