Neue Innovationen und disruptive Ideen braucht das Land. Gerade in deutschen Unternehmen tut man sich diesbezüglich erstaunlich schwer. Viele Hidden Champions wissen nicht, wie sie mit dem Digitalen Wandel umgehen sollen. Vielleicht kann man aus der Geschichte lernen und dann handeln?
Disruptionen und Wendepunkte
Als Johann Philipp Reis am 26. Oktober 1861 vor seine Wohnungstür trat, war der Himmel über Friedrichsdorf klar und sonnig. Trotzdem konnte er die kurze Reise nach Frankfurt zum ehrwürdigen Physikalischen Verein nicht genießen. Er wollte den Physikern seine neueste Erfindung präsentieren und war nervös. Der Lehrer und Hobbyerfinder konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass die beiden Holzkästen, die er unter seinen Armen trug, die Welt für immer nachhaltig verändern würden. Er machte sich mehr Gedanken über die möglichen Reaktionen des Gremiums. Würde man ihn auslachen? Immerhin hatte er über neun Jahre lang an einem Prototyp getüftelt und glaubte fest an den Erfolg seiner Idee. Einen Namen hatte er auch schon: „Telephon“.
Die Experten waren mäßig begeistert und erkannten nicht das ungeheure Potential. Reis lies zwei Jahre später 50 Stück seiner Erfindung bauen und verkaufte diese als wissenschaftliche Demonstrationsobjekte in die ganze Welt. Zwei Jahre nach dem frühen Tot des Erfinders patentierte Alexander Graham Bell 1876 eine Weiterentwicklung und machte den Weg frei für eine kommerzielle Nutzung.
Von einem Roboter mit einem eigenen Bewusstsein sind wir noch viele Jahre entfernt.
Ein typisches Beispiel für eine disruptive Innovation. Mit der Einführung des Telefons nahm die Bedeutung des Telegrafen stark ab. Auch aktuell gibt es einige neue Technologien, die das Potential für disruptive Veränderungen haben. Unter den heißesten Kandidaten ist momentan die Künstliche Intelligenz (KI).
Neuronale Netze: Noch weit entfernt von Skynet
Im Allgemeinen versteht man heutzutage unter KI die Verwendung von „Künstlichen Neuronalen Netzen“. Ein Neuronales Netz ist im Grunde ein statistisches Rechenmodell, welches sehr einfach über eine Software nachgebildet werden kann. Dieses Modell kann mit bekannten Ein- und Ausgangswerten trainiert werden. Das Netz lernt daraufhin mit Hilfe bekannter Zustände, auf bestimmte Situationen zu reagieren. Hierzu ist allerdings eine extrem hohe Anzahl von Lerndurchgängen notwendig.
Ein trainiertes Netz kann sehr gut unbekannte Eingangswerte bewerten und eine passende Ausgangsprognose erzeugen. Dies klingt noch etwas abstrakt, daher ein Beispiel:
Aufgabe eines Neuronales Netzes soll es sein, in einem beliebigen Foto einen Baum zu erkennen. Hierzu werden 10.000 Bilder von Bäumen und 10.000 Fotos ohne Bäume in das Netz gespeist. Jede Abbildung wird von der KI untersucht und bewertet. Ist das Ergebnis falsch, so wird das statistische Modell des Neuronalen Netzes leicht verändert, und alles geht wieder von vorne los. Um unter eine bestimmte Fehlertoleranz zu gelangen, sind mehrere 100 Milliarden Lerndurchgänge notwendig. Diese Vorgänge sind extrem rechenintensiv und können nur mit sehr leistungsfähigen Rechnern realisiert werden. Dies ist auch der Grund, warum zwar bereits 1947 das erste Neuronale Netz auf einem Großrechner lief, diese Technik aber nicht kommerziell genutzt wurde – die Computer waren einfach zu langsam, um die Trainingsphasen in akzeptabler Zeit durchzuführen.
Inzwischen gibt es Prozessoren, die speziell für KI-Aufgaben entwickelt wurden. Diese rechnen so unfassbar schnell, dass sie in einer Sekunde zirka 125 Billionen Rechenaufgaben lösen können. Ein handelsüblicher Großrechner aus dem Jahr 1970 (Kostenpunkt: 250.000 Euro) hätte für diese hohe Anzahl von Berechnungen über 11.000 Jahre gebraucht. Da ein heutiger KI-Prozessor nur 5.000 Euro kostet, ist diese Technik inzwischen auch für Start-ups erschwinglich
Künstliche Intelligenz kommt meist dann zum Einsatz, wenn es um die Auswertung von großen Datenmengen geht. Typische Anwendungsfälle sind zum Beispiel die Umwandlung von gesprochener Sprache zu Text (z. B. bei Sprachassistenten), die Erkennung von Objekten in Bild-/Videomaterial (z. B. bei selbstfahrenden Autos) oder das Aufspüren von Störungen (z. B. durch die Auswertung des Vibrationsmusters von Maschinen). Streng genommen hat die aktuelle KI-Technologie also nichts mit echtem Denken oder dem selbstständigen Treffen von Entscheidungen zu tun. Von einem Roboter mit einem eigenen Bewusstsein sind wir noch viele Jahre entfernt. Trotzdem sind die Einsatzmöglichkeiten von KI schon jetzt sehr vielfältig, und es ergeben sich faszinierende neue Möglichkeiten.
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ, CHANCE ODER GEFAHR? Künstliche Intelligenz (KI) ist eher eine …
Künstliche Intelligenz als Raketentreibstoff für die Customer Journey
Wirklich interessant wird es, wenn neue Technologien in ganz normalen Alltagssituationen einsetzt werden. Aus diesem Grund haben wir uns bei netz98 ein kundennahes Anwendungsszenario aus der Baustoffbranche für ein Forschungsprojekt erdacht. Aus Erfahrungen mit unseren Kunden wissen wir, dass auf Baustellen immer wieder kurzfristig Material nachbestellt werden muss. Die heutige Customer Journey eines Baustellenleiters ist langsam, fehlerbehaftet und zeitaufwendig.
Einfacher geht es mit einer von uns entwickelten Onlineshop-Erweiterung: Der Anwender ruft den Onlineshop eines Baustoffhändlers auf seinem Smartphone auf und aktiviert in der Suche den „Scan-Modus“. Daraufhin muss der Nutzer nur noch das gewünschte Material fotografieren. Per Künstlicher Intelligenz wird das aufgenommene Objekt im Foto erkannt und einem Produkt im Onlineshop zugeordnet. Der Baustellenleiter erhält so mit nur einem Klick einen Produktvorschlag und kann dann in einem zweiten Schritt das gewünschte Baumaterial direkt bestellen.
Als Alternative wurde noch ein zweiter Bestellweg erdacht. Der Nutzer macht in seinem Messenger (z. B. WhatsApp oder Telegram) ein Foto vom Baumaterial und schickt dieses an eine festgelegte Telefonnummer, die dem Onlineshop des Baustoffhändlers zugeordnet ist. Der Onlineshop nimmt das Foto automatisch entgegen, identifiziert den Kunden anhand der Telefonnummer, interpretiert über die KI das Produkt und legt es in den Warenkorb des Kunden. Anschließend, erhält der Baustellenleiter ein „Vielen Dank! Das Produkt liegt nun im Warenkorb“ als Nachricht zurück. Die Bestellung kann dann vom Einkauf des Bauunternehmers im Onlineshop geprüft und ausgelöst werden.
Innovationen selbst vorantreiben, anstatt darauf zu warten
Philipp Reis war Lehrer und unterrichtete unter anderem Physik. Er war aber auch Praktiker und erdachte sich immer wieder neue Versuchsanordnungen, um mit seinen Schülern daran zu forschen. Er hat nicht lange nachgedacht, sondern seine Ideen einfach umgesetzt und ausprobiert. So verbesserte er ein Fahrradmodell und erfand eine frühe Form der Inlineskater. Schließlich entstand durch seine Begeisterung für Innovationen dann auch das Telefon.
Ein solches innovatives und mutiges Mindset wird in vielen Wirtschaftsbereichen immer populärer – weil es erfolgreich ist. So sind bereits unzählige innovative Start-ups, Produkte und Dienstleistungen entstanden, die unsere Welt bereichern, aber auch alte Technologien abgelöst haben. Deutsche Unternehmen sind Weltmeister darin, bestehende Technologien auf Effizienz zu trimmen. So sind gerade im Mittelstand sehr viele erfolgreiche Hidden Champions entstanden. Unter solch einem starken Effizienzgedanken können allerdings umwälzende Innovationen leider nur schwer entstehen, da diese auch misslingen können und somit ein echtes Risiko darstellen.
Wie schwer dieser Prozess ist, sehen wir aktuell bei der deutschen Automobilindustrie, die nicht genug Mut hatte, sich mit der E-Mobilität ernsthaft zu beschäftigen. Es ist inzwischen sonnenklar, was mit dem Automarkt und der Automobilindustrie in den nächsten Jahren passieren könnte. Jedoch wird nicht gehandelt. Schockstarre. Dafür wird auf Messen das nächste SUV-Monster mit 500 PS präsentiert. Erstaunlich.
Von einer solch wichtigen Persönlichkeit wie Philipp Reis ist leider kein so schlaues Zitat bekannt. Überhaupt ist nur ein einziger Satz von diesem großartigen Erfinder überliefert worden. Es ist der Satz, den er, der Legende nach, als erstes durch sein Telefon gesprochen haben soll: „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat.“ Nicht sonderlich tiefsinnig und für die Geschichtsbücher ungeeignet. Er hat diesen speziellen Satz gewählt, da er nur schwer aus dem ganzen Rauschen und Knacken der Telefonübertragung zu erraten war. Im Nachhinein wäre ihm sicherlich etwas Besseres eingefallen. Aber Philipp war eben ein echter Technik-Nerd – kein Poet.
Dan Schulman (CEO von PayPal) hat einmal gesagt:
Das größte Hindernis für den zukünftigen Erfolg eines Unternehmens ist der vergangene Erfolg.
Wie recht er hat!
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